Ein Artikel von Inka Grabowsky
Im Open Place recherchierte Performerin Micha Stuhlmann zu ihrem Projekt «Heim-Weh»
«Seit vergangenem Jahr bereiten wir mit unserem zwölfköpfigen Ensemble eine Performance zum Thema Heimweh vor», sagt Micha Stuhlmann. «Erste kleine Aktionen im Rahmenprogramm gab es schon. Sie sollen auch dazu beitragen, die Hemmschwelle abzubauen, die manche haben, wenn sie eine Installation besuchen.» Micha Stuhlmann hat sich als Tänzerin, Choreographin und Performerin einen Namen gemacht. Vor fünf Jahren hatte sie für ihr inklusives Ensemble aus Menschen mit und ohne Beeinträchtigung mit dem Namen «Laboratorium für den Artenschutz» einen Förderpreis des Kantons bekommen.
«Wir erforschen, was das Menschsein ausmacht – in all seinen Ausformungen», erklärt sie. Hier trifft sich das Interesse der Künstlerin mit dem Ziel des Open Place, allen Menschen eine Anlaufstelle zu bieten. «Wir teilen viele Werte», sagt Pfarrer Damian Brot. «Micha war oft im Open Place und hat den Ort schätzen gelernt. Deshalb freuen wir uns, dass wir Teil ihres Projekts sind, zumal viele unsere Besuchenden eine Migrationsgeschichte haben und dementsprechend etwas zum Thema Heimweh zu sagen haben.» Den ukrainischen Geflüchteten hilft eine Übersetzerin dabei.
Individuelle Antworten auf viel Fragen
Tatsächlich nutzen rund zwanzig Teilnehmende in der leergeräumten Kirche in Kurzrickenbach die Gelegenheit, anderen ihr Herz auszuschütten, weil sie mehr oder weniger unter Heimweh leiden. Jeder darf seine Geschichte erzählen. Stuhlmann stellt nur Fragen. «Die Antworten findet ihr in euch selbst», sagt sie. «Wo spürt ihr Heimweh?», will sie etwa wissen. «Was löst es aus? Und hat sich das Gefühl im Laufe des Lebens verändert?» Letzteres kann ein Mann beantworten, der lange in Asien gelebt hat. «Dort glaubte ich eine Heimat in den Menschen gefunden zu haben, die mich liebten», erzählt er. «Jahre später bin ich überzeugt, dass ich dort zuhause bin, wo meine Sprache gesprochen wird.» Heimat sei dort, wo die Leute einen annähmen, meint ein anderer. «Es ist ein Platz, an dem man nicht nur zu Gast ist.» Auflösbar sei Heimweh jedenfalls nicht, davon ist der nächste Redner überzeugt. «Wenn man nach Jahren an den Ort zurückkehrt, nach dem man sich gesehnt hat, dann ist meist die Welt eine andere. Die Menschen, die ihn ausmachten, sind nicht mehr da.» Eine Südkoreanerin glaubt, ihr Heimweh nach 35 Jahren am Bodensee überwunden zu haben. Dann muss sie einräumen: «Wenn ich die Musik aus meiner Jugend höre, oder wenn ich mit meiner Mutter telefoniere, dann überkommt mich doch die Wehmut.» Eine Ukrainerin hat Heimweh nach der Weite: «Ich habe versucht in der Grossstadt und in den Bergen zu leben, aber es war mir zu eng. Hier am See fühle ich mich wohl – sogar bei Nebel.»
Reden hilft
Am Ende haben alle gelernt, dass man nicht nur Heimweh nach einem Ort haben kann. Es gibt die Sehnsucht nach vertrauten Menschen, nach der Muttersprache, nach einer Verbundenheit mit anderen oder etwas Höherem oder den Wunsch in die Geborgenheit der Kindheit zurückzukehren. «Ich wünschte, ich könnte solches Heimweh empfinden», meint eine Frau. «Aber ich bin als Kind ins Heim entsorgt worden. Ich war noch nie irgendwo heimisch. Vielleicht erlebe ich es ja noch.» Eine andere Teilnehmerin bedankt sich ausdrücklich, dass ihr endlich jemand zuhört, wenn sie über ihr Leid spricht. «Es tut gut darüber zu reden, was einen bedrückt.»
Postkartenaktion des Laboratoriums für Artenschutz
Micha Stuhlmann bedankt sich ihrerseits für die geteilten Eindrücke und Erfahrungen. Wer es nicht zum Gesprächskreis geschafft hat, kann sie ihr weiterhin per Postkarte mitteilen https://heim-weh.ch/category/oeffentliche-aktion/ . Die Künstlerin bittet um kleine schwarz-weisse Zeichnungen oder Texte zum Thema Heimweh. «Rund 210 vorfrankierte Karten haben ich schon verteilt und zum Teil zurückbekommen», erzählt sie. Im November werden sie im Performance-Raum im Kult-X ausgestellt.
2023 Heimweh
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